Lyrik

geschrieben am: 26.05.2019 von: amw_admin in Kategorie(n): Allgemein

Existentielle Erlebnisse rufen nach literarischer Bewältigung. Die briefliche Ankündigung, ein Vertreter der Finanzbehörde werde meinem Unternehmen zum Zwecke der Prüfung einen Besuch abstatten, versetzte mich zunächst in Unruhe; nach erfolgtem Besuch allerdings brach sich das Erlebte wie von selbst Bahn und gestaltete sich in lyrischer Form.

Lesen Sie hier das Ergebnis:

 

Als er meine Bücher prüfte

dem Finanzamt Köpenick gewidmet

 

Stechender Blick, nicht von dieser Welt.
Nicht Mensch, nicht Geist,
Erschien er zur Morgenstunde in meinen Räumen.

Nahm selbst Raum ein und beanspruchte
Tisch, Stuhl, Rechner
„und alle Unterlagen der letzten fünf Jahre
Auswertungen, Auszüge, Belege
und die dazugehörigen Verträge.

Alles!“ Ich gab’s ihm
innerlich zitternd, stapelte Ordner und Hefter,
verharrte kraftlos. „Bin nebenan, falls …“
Er sah mich nicht, ihn reizten Zahlen und Papier, und mechanisch
griff er die armen Stapel an, hörte nicht mein aushauchendes:
„Ich warte draußen …“

… vor der Tür. Wissend, drinnen schürzt sich
der Knoten des Schicksals. Wird ihn der Unbestechliche gefällig lösen,
wird das Einsichtnehmen, das Prüfen und perfide aufs Komma genaue
Nachkalkulieren, wird es übereinstimmen mit meinem behende hingehuschten
doch stimmigen Zahlenwerk?

Oder fällt der Vorhang? Und Formfehler, verletzend uneinsehbare Regeln
werden das vor Zeiten begonnene Spiel
böse beenden mit dem dürren Bescheid, der Laden sei, von nun an:
dicht!
Und die Aktiva
eingefroren.
Und die Passiva
verbleiben bei mir als nicht zu tilgende Schuld.

So dacht ich, im Flure vagierend, gebeugt wie
Schilfrohr im Wind, gepeitscht von Gedanken, die anstürmten mich
mit Erinnertem: O Sonnabendnachmittage, als ich Belege sortierte,
und mit Vorwitz, weil die Beträge so gering, der Kontierung nicht achtete
und schlampernd die Einnahmen addierte, ohne der Summa Richtigkeit doppelt zu prüfen.

Wo doch der Tag der Prüfung so ferne schien.

Aber im Auge des Sturms obliegt am Ende
die große Ruhe, und starr erwartete ich, als der Tag sich neigte,
die Stimme des Unbestechlichen, der beschied: „Das wars!“
und mich fixierte mit sonderbarem Blick. „Sie hören von mir“,
und zufügte: „Alles tiptop übrigens. Wenn nur alle so wären wie Sie.“

Und mit diesen Worten entschwand er mir.
Wohlan, wackrer Bursche, dessen Pflichterfüllung dir wie mir zur Ehre gereicht;
gehe hin, geh deines Wegs.
Kleiner wurde er beim Hinuntergehen der Straße, und ich sah dem unscheinbar Werdenden nach, wie er entschwand,

erst meinem Blick,

dann meinem Sinn.