Lyrik

Existentielle Erlebnisse rufen nach literarischer Bewältigung. Die briefliche Ankündigung, ein Vertreter der Finanzbehörde werde meinem Unternehmen zum Zwecke der Prüfung einen Besuch abstatten, versetzte mich zunächst in Unruhe; nach erfolgtem Besuch allerdings brach sich das Erlebte wie von selbst Bahn und gestaltete sich in lyrischer Form.

Lesen Sie hier das Ergebnis:

 

Als er meine Bücher prüfte

dem Finanzamt Köpenick gewidmet

 

Stechender Blick, nicht von dieser Welt.
Nicht Mensch, nicht Geist,
Erschien er zur Morgenstunde in meinen Räumen.

Nahm selbst Raum ein und beanspruchte
Tisch, Stuhl, Rechner
„und alle Unterlagen der letzten fünf Jahre
Auswertungen, Auszüge, Belege
und die dazugehörigen Verträge.

Alles!“ Ich gab’s ihm
innerlich zitternd, stapelte Ordner und Hefter,
verharrte kraftlos. „Bin nebenan, falls …“
Er sah mich nicht, ihn reizten Zahlen und Papier, und mechanisch
griff er die armen Stapel an, hörte nicht mein aushauchendes:
„Ich warte draußen …“

… vor der Tür. Wissend, drinnen schürzt sich
der Knoten des Schicksals. Wird ihn der Unbestechliche gefällig lösen,
wird das Einsichtnehmen, das Prüfen und perfide aufs Komma genaue
Nachkalkulieren, wird es übereinstimmen mit meinem behende hingehuschten
doch stimmigen Zahlenwerk?

Oder fällt der Vorhang? Und Formfehler, verletzend uneinsehbare Regeln
werden das vor Zeiten begonnene Spiel
böse beenden mit dem dürren Bescheid, der Laden sei, von nun an:
dicht!
Und die Aktiva
eingefroren.
Und die Passiva
verbleiben bei mir als nicht zu tilgende Schuld.

So dacht ich, im Flure vagierend, gebeugt wie
Schilfrohr im Wind, gepeitscht von Gedanken, die anstürmten mich
mit Erinnertem: O Sonnabendnachmittage, als ich Belege sortierte,
und mit Vorwitz, weil die Beträge so gering, der Kontierung nicht achtete
und schlampernd die Einnahmen addierte, ohne der Summa Richtigkeit doppelt zu prüfen.

Wo doch der Tag der Prüfung so ferne schien.

Aber im Auge des Sturms obliegt am Ende
die große Ruhe, und starr erwartete ich, als der Tag sich neigte,
die Stimme des Unbestechlichen, der beschied: „Das wars!“
und mich fixierte mit sonderbarem Blick. „Sie hören von mir“,
und zufügte: „Alles tiptop übrigens. Wenn nur alle so wären wie Sie.“

Und mit diesen Worten entschwand er mir.
Wohlan, wackrer Bursche, dessen Pflichterfüllung dir wie mir zur Ehre gereicht;
gehe hin, geh deines Wegs.
Kleiner wurde er beim Hinuntergehen der Straße, und ich sah dem unscheinbar Werdenden nach, wie er entschwand,

erst meinem Blick,

dann meinem Sinn.

Kunden, die man nicht vergißt (I)

 

Jeder Mensch hinterläßt Spuren, und sei es im Herzen seiner Mitmenschen. Manche Begegnungen im Antiquariat sind so bemerkenswert, daß ich sie aufschreibe, um Mit- und Nachwelt teilhaben zu lassen. Unvergeßbar beispielsweise …

 

… jener unscheinbare Mann mittleren Alters, der eines Tages in den Laden trat: Forsch trat er ein, baute sich vor meinem Ladentisch auf und fragte, Kinn erhoben, Arme verschränkt: „Haben Sie das Buch Absolute Sex?“

Ich verneinte. Er machte wortlos kehrt und verschwand aus dem Laden so schnell, wie er gekommen war. Nach einer Woche aber, ungefähr zur selben Zeit, war er wieder da: Stützte die Hände an der Ladentheke auf, beugte sich vor und wiederholte seine Frage: „Haben Sie heute das Buch Absolute Sex?“

Langsam erhob ich mich von meinem Platz: „Nein, das gesuchte Buch habe ich nicht. Ich hatte es letzte Woche nicht, und ich werde es wohl auch nächste Woche nicht haben. Offen gesagt: Ich handle eher mit Schöngeistigem und Klassischem: Literatur und Kunstbücher. Das heißt: Sie werden das Buch bei mir nicht finden. Es tut mir leid.“

Er senkte den Kopf, langsam wandte er sich zum Gehen. Erst an der Tür, die Klinke schon in der Hand, schien er seinen Mut zusammenzunehmen und auszusprechen, was ihm eigentlich am Herzen lag. Und er fragte leise: „Haben Sie Bücher über Liebe?“

Ich stutzte. „Liebe …“ wiederholte ich nachdenklich. „Schauen wir mal …“

Ich ging zum Psychologieregal, winkte den Kunden her zu mir, zeigte ihm Erich Fromms „Die Kunst zu lieben“ und Peter Lausters „Liebe. Psychologie eines Phänomens“. Zog ihn zur Schönen Literatur, wies nacheinander stumm auf ‚Madame Bovary‘, ‚Anna Karenina‘, ‚Effi Briest‘. „Ist es nicht sonderbar“, fragte ich ihn, „daß die großen Eheromane auch die großen Ehebruchromane sind?“

In der Abteilung Lyrik legte ich ihm vor: ‚Von mir für dich‘, ‚Deutsche Liebesgedichte‘, ‚Das Hohelied Salomo ‘. Und zog das Fazit: „Stellt man sich nicht irgendwann die Frage: Welches Buch handelt eigentlich nicht von Liebe?“

Ob ihn das überzeugte? Er schien verwandelt. Er blieb lange vor den Regalen stehen, zog einzelne Titel heraus, blätterte lange, langsam und in sich versunken. Schließlich kaufte er „50 Novellen der italienischen Renaissance“ und verließ den Laden mit einem Lächeln, das Buch an seine Brust gepreßt.

Ich habe ihn nie wiedergesehen.

Anima libri – das Blog aus dem Antiquariat

 

Die Routine des An- und Verkaufens von Büchern durchbrechend, zweitens als unterhaltsame Erweiterung unserer Website heben wir heute ein Blog, das hauptsächlich über antiquarische Bücher, nebensächlich über Literatur, die Befindlichkeiten des Antiquars, den Buchmarkt an sich plaudert, aus der Taufe.

Namen standen reichlich zur Wahl. Doch Überschriften wie ‚Aus Dichtung und Wahrheit‘, ‚Notizen aus dem Antiquariat‘, ‚Vom Leben mit Büchern‘ zeigten Grenzen auf: alles schön und alles schon von anderen genutzt! ‚Bücher wirft man nicht weg‘ hätte den Fokus auf das Bewahrende des Antiquars gelegt und wäre, die Realität einbeziehend, dazu ironisch und hintersinnig – wäre aber genau deswegen mißverständlich und also auch nicht annehmbar.

Anima libri also? Den vakanten Namen überließ mir schon vor Jahresfrist eine junge Bloggerin, die sich anderen Aufgaben zuwandte. Ich sage Danke und will den zum Widerspruch anregenden Titel mit Leben füllen. Seele des Buches? Was ist dazu zu sagen und zu schreiben?

Bücher sind sonderbare, einzigartigen Hybride, da sie ebenso aus Materie wie aus Geist bestehen (eine Doppelwesenhaftigkeit, die oft genug zu Streit führt, da die Verfechter ihrer Sache stets nur die eine Seite verteidigen oder angreifen, ohne das Ganze zu sehen … ein andermal mehr davon …), Bücher also sind es, die auch dem profunden Kenner die Frage abnötigen und unbeantwortet lassen: Haben sie denn Seele?

Ich weiß es nicht. Keiner weiß. Aber es lohnt, der Frage nachzuspüren, wie es um das Buch-Wesen (man beachte den Doppelsinn) bestellt ist: Welche Geschichte – vom gedruckten Inhalt abgesehen – hat es uns zu erzählen? Auf welchen Wegen kam das Buch von irgendwem zu mir und von mir zu dir? Welche Rolle spielt der Antiquar, als Bewahrer und Weitergeber; was erlebt er, wenn er Bücher und Menschen zusammenbringt?

Anima libri, das Blog, will unbekümmert und spielerisch Antworten versuchen. Die Herangehensweisen sind vielfältig; wir erzählen vom Alltag des Antiquars, von Büchern und ihren Schicksalen, von Fundstücken; wir begleiten aktuelle Entwicklungen, und wir wagen Prognosen über eine Branche, die sich neu erfinden muß, wenn sie überleben will.

Festhalten bitte. Es gibt viel zu lesen.

 

Kurze Chronik des Unternehmens

2000 – Das Antiquariat Wagner wird am 01.04. beim Wirtschaftsamt in Berlin-Friedrichshain angemeldet. Haupterwerbsziel ist ‚An- und Verkauf von Büchern via Internet‘, Sitz des Versandantiquariats ist die heimische Wohnung – das Wort Wohnzimmerantiquar ist in der Branche kein Kompliment, trifft aber den Sachverhalt präzise.

2001 – Die Geschäfte lassen sich gut an; durch Vermittlung einer freundlichen Pankower Kollegin werden die ersten größeren Ankäufe abgewickelt. Die heimische Wohnung wird zu klein, Lagerraum dringend gesucht; Gedanken über ein Ladenantiquariat nehmen Gestalt an. Bedenken von wohlmeinenden Freunden und Kollegen: „Ein Antiquariat im Friedrichshain? Da liest doch keiner!“ werden in den Wind geschlagen.

2002 – Nach monatelangen Renovierungen öffnet in der Wühlischstraße in einem früheren Blumenladen das Antiquariat. Visitenkarten der frühen Jahre zeigen an: „Dienstag bis Freitag 16-19 Uhr, Montag geschlossen“. Nur wenige wissen, daß hinter den Kulissen mit unerschöpflichem  Elan ein Versandantiquariat betrieben wird.

2003 –Friedrichshain ist bei Tage eine ruhige Wohngegend. Ruhig fließen auch die Arbeitstage dahin. Der Internetbestand wächst. Gute Bücher verkaufen sich. Gelegentlich fährt ein Auto vorbei. Neugierige schauen in den Laden, fragen: „Sind Sie neu?“

2004 – Auf Wachstumskurs. Gemäß dem Grundsatz ‚viele Titel, viel Umsatz‘ wächst der Internetbestand unaufhaltsam.

weiter lesen…