Kunden, die man nicht vergißt (I)

geschrieben am: 26.05.2019 von: amw_admin in Kategorie(n): Allgemein

 

Jeder Mensch hinterläßt Spuren, und sei es im Herzen seiner Mitmenschen. Manche Begegnungen im Antiquariat sind so bemerkenswert, daß ich sie aufschreibe, um Mit- und Nachwelt teilhaben zu lassen. Unvergeßbar beispielsweise …

 

… jener unscheinbare Mann mittleren Alters, der eines Tages in den Laden trat: Forsch trat er ein, baute sich vor meinem Ladentisch auf und fragte, Kinn erhoben, Arme verschränkt: „Haben Sie das Buch Absolute Sex?“

Ich verneinte. Er machte wortlos kehrt und verschwand aus dem Laden so schnell, wie er gekommen war. Nach einer Woche aber, ungefähr zur selben Zeit, war er wieder da: Stützte die Hände an der Ladentheke auf, beugte sich vor und wiederholte seine Frage: „Haben Sie heute das Buch Absolute Sex?“

Langsam erhob ich mich von meinem Platz: „Nein, das gesuchte Buch habe ich nicht. Ich hatte es letzte Woche nicht, und ich werde es wohl auch nächste Woche nicht haben. Offen gesagt: Ich handle eher mit Schöngeistigem und Klassischem: Literatur und Kunstbücher. Das heißt: Sie werden das Buch bei mir nicht finden. Es tut mir leid.“

Er senkte den Kopf, langsam wandte er sich zum Gehen. Erst an der Tür, die Klinke schon in der Hand, schien er seinen Mut zusammenzunehmen und auszusprechen, was ihm eigentlich am Herzen lag. Und er fragte leise: „Haben Sie Bücher über Liebe?“

Ich stutzte. „Liebe …“ wiederholte ich nachdenklich. „Schauen wir mal …“

Ich ging zum Psychologieregal, winkte den Kunden her zu mir, zeigte ihm Erich Fromms „Die Kunst zu lieben“ und Peter Lausters „Liebe. Psychologie eines Phänomens“. Zog ihn zur Schönen Literatur, wies nacheinander stumm auf ‚Madame Bovary‘, ‚Anna Karenina‘, ‚Effi Briest‘. „Ist es nicht sonderbar“, fragte ich ihn, „daß die großen Eheromane auch die großen Ehebruchromane sind?“

In der Abteilung Lyrik legte ich ihm vor: ‚Von mir für dich‘, ‚Deutsche Liebesgedichte‘, ‚Das Hohelied Salomo ‘. Und zog das Fazit: „Stellt man sich nicht irgendwann die Frage: Welches Buch handelt eigentlich nicht von Liebe?“

Ob ihn das überzeugte? Er schien verwandelt. Er blieb lange vor den Regalen stehen, zog einzelne Titel heraus, blätterte lange, langsam und in sich versunken. Schließlich kaufte er „50 Novellen der italienischen Renaissance“ und verließ den Laden mit einem Lächeln, das Buch an seine Brust gepreßt.

Ich habe ihn nie wiedergesehen.